F. Stoeckli: L’affaire des colonels 1915–1916

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Titel
L’affaire des colonels 1915–1916. Révélations des archives


Autor(en)
Stoeckli, Fritz
Erschienen
Genève 2020: Slatkine Reprints
Anzahl Seiten
279 S.
von
Daniel Segesser

Lange Zeit galt der Erste Weltkrieg in der Schweiz als der vergessene Krieg. Das hat sich im Zeichen des Centenaire auch hierzulande geändert. Eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren hat in den vergangenen Jahren zu einer grossen Vielfalt von Themen neue Forschungsergebnisse publiziert und damit dafür gesorgt, dass diese lange Zeit bestehende Forschungslücke zu weiten Teilen geschlossen werden konnte. Das heisst allerding nicht, dass die Geschichte des Ersten Weltkrieges in der Schweiz nun abschliessend erforscht ist, wie die vorliegende Studie von Fritz Stoeckli zur Oberstenaffäre zeigt. Der Autor widmet sich einem Ereignis, das bereits in der Vergangenheit Gegenstand von Forschungsarbeiten war, hatten sich doch Jürg Schoch 1972 eingehend1 sowie Jacob Ruchti 1928 und Hans Rudolf Fuhrer 2003 in knapperer Form mit dem Thema beschäftigt.2 Zudem liegt seit 2016 auch eine englischsprachige kurze Würdigung aus der Feder von Sebastian Steiner vor.3 Fritz Stoeckli zeigt mit seiner Studie nun auf, dass eine Neubewertung bereits ausgewerteter Quellen – in diesem Fall des Bulletins des Generalstabes – ebenso wie die Erschliessung neuer Quellen – in diesem Fall aus russischen Archiven – zu neuen Ergebnissen führen kann.

Sein erstes Kapitel widmet der Autor der Entwicklung der militärischen Planung in der Schweiz in den Jahren 1905–1915. Stoeckli lobt dabei etwas gar stark die «weise» Voraussicht des Chefs der Generalstabsabteilung, Theophil Sprecher von Bernegg. Dieser habe seine Planungen ganz zurecht nicht nur auf die Folgen eines möglichen Konflikts zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich ausgerichtet, sondern auch andere Konflikte – beispielsweise zwischen den damals noch verbündeten Italien und Österreich-Ungarn – als mögliche Szenarien in seine Überlegungen mit eingeschlossen. Für Stoeckli ist damit auch klar, dass die vor dem Krieg erfolgten «Absprachen» Sprechers mit dem deutschen Generalstabschef Helmut von Moltke und dem Chef des österreichischen Evidenzbureaus Eugen Hordliczka im Interesse der Schweiz gelegen hätten und weder verbindlich noch neutralitätswidrig gewesen seien. Es habe sich vielmehr um Absichtserklärungen für den Fall gehandelt, dass eine der Kriegsparteien – in diesem Fall Frankreich oder Italien – versuchen sollte, ihre jeweiligen Gegner über schweizerisches Territorium anzugreifen. Im engeren Sinn hat Stoeckli damit sicherlich recht, allerdings unterschätzt er doch die politische Dimension der Tatsache, dass mit Frankreich und Italien keine vergleichbaren Gespräche stattfanden. Das Misstrauen gegenüber den potenziellen Gegnern der Mittelmächte konnte dort durchaus mit Recht als Parteinahme der Schweiz und ihres Militärs gedeutet werden.

Sein zweites Kapitel widmet Stoeckli in sehr akribischer und quellennaher Art und Weise dem Ablauf der Oberstenaffäre bis vor dem Prozess gegen die beiden Obersten Karl Egli und Moritz von Wattenwyl. Er zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass es mehrfach zu einem neutralitätswidrigen Verhalten kam, dass die beiden Obersten dabei allerdings nie Landesverrat begangen hätten, weil sie keine direkt die Schweiz betreffenden Informationen weitergegeben hätten, wie dies zeitgenössische Stimmen in der Presse kolportierten. Die Weitergabe des Bulletins des Generalstabes an deutsche und österreichische Militärattachés in Bern sei zwar mit Blick auf die Neutralität problematisch gewesen, die zeitgenössische Presseberichterstattung habe deren Bedeutung aber weit überschätzt, habe es sich doch in den meisten Fällen um Informationen gehandelt, die aus öffentlichen Quellen stammten. Stoeckli zeigt auch auf, dass sich der Bundesrat mit der Affäre schwergetan und damit gerungen habe, eine sowohl für die Armee wie das Land «gute Lösung» zu finden. Seine Analyse der Verhandlungen im Bundesrat ist sehr überzeugend, allerdings beschränkt sich Stoeckli etwas zu sehr auf die Sicht der Behörden. Es wäre möglicherweise auch interessant gewesen, die Pressekampagne im Lichte der gewonnen Erkenntnisse neu zu beurteilen.

Das dritte Kapitel von Stoecklis Buch beschäftigt sich mit dem Prozess gegen Egli und von Wattenwyl. Der Autor verweist dabei auf eine bisher in der Forschung unterschätzte Voruntersuchung von Max Huber, in deren Verlauf General Wille dem Stellvertreter des Armeeauditors zuerst Einblick in abgefangene deutsche Depeschen gewährte, diese Zusage dann auf Intervention Sprechers wieder zurückgezogen habe. Huber habe dennoch Einblick in die Arbeit der Nachrichtensektion erhalten und dabei erkannt, dass die Zusammenarbeit mit den Mittelmächten – aber auch mit der Entente – möglicherweise weiter ging, als damals und bis heute bekannt war. Dies lasse sich nicht mehr abschliessend klären, weil Huber die Details seiner administrativen Untersuchung und gegebenenfalls vorhandene Beweismittel nicht dokumentieren musste. Stoeckli kann auch nachweisen, dass nicht alle in diesem Zusammenhang erstellten Dokumente heute in den Archiven noch auffindbar sind. Er dokumentiert im Anschluss in der ihm eigenen Akribie den Verlauf des Prozesses und zeigt auf, dass die beiden Obersten auch nach ihrer formellen Entlassung aus der Armee noch über das Vertrauen von deren Führung verfügt hätten. So hätten sie auch noch mehrere Frontbesuche gemacht. Dass Karl Egli und später seine Familie während wie nach dem Krieg in engem Austausch mit dem letzten Chef des österreichisch-ungarischen Evidenzbüros, Maximilian Ronge blieb, scheint dem sonst so akribisch arbeitenden Stoeckli allerdings entgangen zu sein.

In seinen Schlussfolgerungen betont Stoeckli nochmals, dass die Weitergabe des Bulletins des Generalstabes zwar neutralitätspolitisch problematisch gewesen sei, dieses aber keine wesentlichen Informationen enthalten habe. Weit wichtiger sei allerdings die Tatsache, dass der schweizerische Generalstab auch mit Russland einen Austausch gepflegt habe, der über das hinausgegangen sei, was bisher bekannt war. Das illustrieren Dokumente aus russischen Archiven, von welchen Stoeckli einige im Anhang seiner Arbeit in Auszügen abdruckt. Die Weitergabe von über das Bulletin hinausgehenden Informationen an den deutschen Militärattaché Busso von Bismarck sei wahrscheinlich, könne aber nicht mit Sicherheit dokumentiert werden. Auffällig sei im Übrigen, dass die Nachrichtensektion keine französischen Depeschen dekodiert habe. Dies sei, so Stoeckli, ein Hinweis darauf, «que le secret d’État a également joué un rôle dans ce cas.» (S. 144).

Der Schluss des Buches ist etwas gewöhnungsbedürftig. Er besteht aus einem Epilog, einem Anhang und einigen «sources intéressantes». Diese Struktur erklärt Stoeckli leider nicht näher. So vermischt er darin Ausführungen zum Schicksal seiner Akteure und zur kryptologischen Arbeit von André Langie, Auszüge aus den Prozessakten, Telegramme des russischen Militärattachés Sergei Golovan, Auszüge aus den Bulletins des Generalstabes und weitere Quellen, darunter einem kurzen Auszug aus der erwähnten administrativen Untersuchung Max Hubers. Die an dieser Stelle wenig überzeugende Struktur schmälert leider den Wert der an sich interessanten Editionsarbeit des Autors.

Abschliessend lässt sich festhalten, dass Fritz Stoeckli trotz bereits reichlich vorhandener Forschungsliteratur eine interessante Neubewertung bestehender Quellen gelungen ist, die zudem davon profitiert, dass der Autor in russischen Archiven auf Dokumente gestossen ist, welche zeigen, dass die Zusammenarbeit der Nachrichtensektion des Generalstabes nicht ganz so einseitig war, wie es 1915–1916 den Anschein erweckte. Damit passt das Werk des Autors gut in die Arbeiten einer Forschungsgeneration, die einer transnationalen Perspektive verpflichtet ist.

1 Jürg Schoch, Die Oberstenaffäre. Eine innenpolitische Krise (1915/1916), Bern 1972.
2 Jacob Ruchti, Geschichte der Schweiz während des Weltkrieges 1914–1918, Bd. 1, Bern 1928, S. 158–195; Hans Rudolf Fuhrer, Die Oberstenaffäre, in: ders., Paul Meinrad Strässle (Hg.), General Ulrich Wille. Vorbild den einen – Feindbild den anderen, Zürich 2003, S. 359–408.
3 Sebastian Steiner, Oberstenaffäre, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Version vom 23. 05. 2016. Online: https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/oberstenaffare/.

Zitierweise:
Segesser, Daniel Marc: Rezension zu: Stoeckli, Fritz: L’affaire des colonels 1915–1916. Révélations des archives, Genève 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 166-168. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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